
Im Gedicht “Wendung”, das zur Zeit der Sommersonnenwende des Jahres 1914 entstanden ist, hat Rainer Maria Rilke uns in die tiefste Tiefe dessen gewiesen, worauf es beim Schauen ankommt:
Denn des Anschauens, siehe, ist eine Grenze, und die geschaute Welt will in der Liebe gedeihn. Werk des Gesichts ist getan - tue nun Herz-Werk … Unsere Augen sind gewöhnlich sehr flink und überblicken in Sekunden schnelle komplexe Situationen. Sie jagen über Bildschirme und huschen über Smartphones. Unsere Augen sind unruhig und gehetzt. Die inneren Augen des Geistes folgen den äußeren. Dementsprechend bewegen wir uns in flüchtigen, oberflächlichen und unzusammenhängenden Gedanken.
Wie oft schauen wir Menschen und Dinge an und beginnen zu werten, zu analysieren und einzuteilen - in gut und hässlich, gefällt mir, gefällt mir nicht, will ich haben, will ich verstehen. Oder aber wir übersehen viele Dinge. Wie oft gehen wir - in Gedanken verstrickt und versunken - durch unsere Welt. Diese Art des Sehens reduziert die Gesamtwahrnehmung. Sie verwehrt den Blick in das Herz der Dinge und vor allem den Blick in das Herz des Mitmenschen. Haben wir je unseren Partner, unsere Kinder, unsere Freunde - sie einfach betrachtet? Haben wir je eine Blume angeschaut, ohne sie Rose zu nennen? Können wir das, - einfach schauen - ohne Geplapper des Verstandes, ohne Verlangen. Das erfordert eine immense Intensität der Betrachtung. Der Zenmeister Suzuki verwendet in einem Aufsatz zwei Gedichte, um die Unterschiede des Schauens aufzuzeigen. “Wenn ich aufmerksam schaue, seh ich die Nazuna an der Hecke blühen”. (Basho) “Blume in der geborstenen Mauer. Ich pflücke dich aus den Mauerritzen. Mitsamt den Wurzeln halte ich dich in der Hand. Kleine Blume. Doch wenn ich verstehen könnte, was du mitsamt den Wurzeln und alles in allem bist, wüsste ich, was Gott und Mensch ist”. (Tennyson) Tennyson pflückt die Blume mitsamt den Wurzeln und hat sie in der Hand. Basho pflückt die Blume nicht. Er schaut sie nur an. Tennyson ist nicht interessiert an der Blume. Er ist interessiert an der Frage, was Gott und Mensch ist. Und er reißt die Blume mitsamt der Wurzel aus. Er betrachtet die Blume intellektuell. Basho schaut nur. Basho sieht das Geheimnis der Nazuna. Er berührt die Blume nicht, aber er schaut. Für Tennyson bleibt die Blume ein Buch mit sieben Siegeln. Basho erkennt die Nazuna in ihrem Wesen. “Die geschaute Welt will in der Liebe gedeihn”, sagt R. M. Rilke. In der Intensität der Beobachtung, des Spürens, der echten Zuneigung entfaltet sich die Liebe, die nichts mehr mit Verlangen zu tun hat. Wir können uns darin üben von außen und inwendig gleichzeitig zu schauen, uns zu öffnen und verletzlich zu sein. Als ein alter Mann, der sich besonders mit der Züchtung von Kakteen befasste, gefragt wurde, ob er ein Geheimrezept anwende, weil seine Lieblingspflanzen so gut gedeihen, so reichlich blühten, sagte er: Man muss sie jeden Tag wenigstens einmal mit Liebe anschauen. Mehr noch ginge es darum, Menschen mit dem Herzen anzuschauen. Solches Herz-Werk kann die Welt verändern. In diesem Sinne einen Sommer mit viel 'Herzwerk'! Christoph
Im Juli und August sitzen wir jeden Montag im Zendo (19:30 - 21:00 Uhr) ohne Anmeldung.
Online-Sitzen im Juli und August (bis 8.9.): täglich (von Montag - Freitag) von 6:30 -7:15 Uhr
Für all eure Beiträge möchten wir uns herzlich bedanken. Im Kurs Stille und Bewegung zusammen mit Christine Lener im Stift Zwettl gehen wir in die Schule des Schauens.